Es ist eine Zeit, in der ich viel nachdenke. Der zweite Todestag der Mama war gerade und ich habe das Gefühl, immer noch viel Trauer mit mir herum zu tragen. Das kulminiert natürlich heftig mit den Wechseljahren. Zu der Trauer gesellt sich eben noch das Schwitzen und all die anderen körperlichen und seelischen Symptome.
Eigentlich verstand ich die tiefe Trauer, die ich immer noch empfinde, gar nicht so wirklich, bis ich vor ein paar Tagen auf einer Autofahrt das Lied von Bob Seeger „Against the wind“ hörte. Nach den ersten Takten sang ich lauthals mit – allein im Auto macht das besonders viel Spaß. Doch dann begann der Refrain und meine Stimme versagte mir, ein Knoten bildete sich in meinem Hals.
„Against the wind |We were runnin‘ against the wind |We were young and strong, we were runnin‘ |Against the wind“.
Ich wurde von solch einem heftigen Weinkrampf geschüttelt, dass ich rechts ran fahren musste. Mir wurde schlagartig klar, dass ich nicht in erster Linie der Tod meiner Mutter bzw. meiner Eltern betrauere, sondern den Verlust meiner Jugend. Ich bin nicht mehr jung, nicht mehr stark und ich renne nicht mehr gegen den Wind. Mein Geist ist zwar noch rebellisch, aber körperlich kann ich das immer weniger ausdrücken. Das macht mir echt zu schaffen. Ich beschäftige mich ja schon geraume Zeit mit dem Thema „Jugendlichkeit – Alter“, aber eher auf einer abstrakten, theoretischen Ebene. Aber nun fuhr es so gnadenlos in mich hinein wie ein Blitz. Es wurde plötzlich konkret erfahrbar: Es gibt keinen Weg zurück. Und genau das machte mich so traurig.
Ich weiß zwar immer noch nicht, in welche Richtung sich mein Leben entwickeln wird, aber ich habe das Gefühl, durch diese Erkenntnis dem Weg ein Stück näher gekommen zu sein. In all dieser Trauer scheint eine Klarheit hindurch, die sich irgendwann wie ein Kristall zu erkennen geben wird. Da bin ich mir ganz sicher.
Neulich fand ich einen Spruch von Bettina von Arnim, in dem ich mich gut wiederfinden kann:
„Wer sich nach Licht sehnt, | ist nicht lichtlos. | Denn die Sehnsucht | ist schon Licht.“
Liebe Anette, als ich Deine Zeilen las, kamen mir sofort die letzten beiden Zeilen von diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke in den Sinn:
Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? –
Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt –
Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Manchmal möchte ich die Zeit aufhalten … Es tut mir gut, im Schwinden meiner jugendlichen Aura (ja, jetzt werde ich auch von Mitdreißigern … Vierzigjährigen auf der Straße gesiezt!) eine neue (Los)Gelassenheit zu spüren.
Ich umarme Dich. Alles Liebe, Karen
Danke für Deine schönen Zeilen. Anette
liebe anette, ich kann deine gedanken sehr gut nachvollziehen! in vielem merken wir ja, dass wir älter geworden sind und manches -auch schönes, aber auch nicht nur!- hinter uns gelassen haben offenbar….und wie schön, dass manchmal doch ein stück kind-,jugendlichsein durchblitzt, bei mir zb beim salsa tanzen mit meinem deutlich jüngeren italienischen tanzpartner. da bin ich höchstens 20 und gleichzeitig die „nonna“, wie er mich -ganz nettgemeint- manchmal nennt, seit mein enkelchen jon auf der welt ist. das ist zwar erst etwas über eine woche her, aber nonna, also im oma-alter zu sein, kann auch wundervolles bergen. es gibt licht, und du findest es, ganz sicher, wieder! dein kleiner prinz schafft es oft, es in dir anzuknipsen, es ist ja da, nur z.zt noch etwas getrübt! ich höre dein lachen, wenn ich etwas erzähle, was du lustig findest. herrlich! – darin bist du ganz jung.
sei gedrückt, der vers von bettina v.a. ist wunderbar! birgit