Gestern machte sich eine Freundin von mir auf den Weg nach Zentralasien … eben rief sie an … von zu Hause: Die teuerste Kurzreise der Welt – na ja, der halben Welt.
Was war geschehen? Seit Monaten war sie in Planung für diese Reise gewesen, ihre Vorfreude groß und das Lesen in den Märchen von Tausendundeiner Nacht tat das Übrige. Unterlagen wurden verschickt, Formulare ausgefüllt und Visa beantragt. Dann gestern früh in den Flieger nach Süddeutschland, von da aus sollte es dann weitergehen zum Zielflughafen. Aber in München endete die Reise meiner Freundin. Kein Reisepass!
Sie war der festen Meinung gewesen, den Reisepass zur Beantragung des Visums mitgeschickt zu haben. Ursprünglich sollten nämlich Visa und Pässe am Flughafen vor Reiseantritt ausgehändigt werden. Also alles klar. Es war schließlich nicht ihre erste Fernreise. Frau hat Erfahrungen in Fernreisen.
Als sie nun dort ankam, standen die anderen Reiseteilnehmer bereits am Treffpunkt. Meine Freundin fragte die Reiseleiterin nach dem Pass, erhielt aber als Antwort nur kugelrunde Augen und dann schwante ihr, dass ihr Pass warm und trocken zu Hause lag. Nach der Schockstarre große Aufregung auf allen Seiten, hektische Telefonate und Krisenrat. Aber da bei dieser Reise ein Gruppenvisum beantragt wurde, in dem meine Freundin nun nicht vorkam, gab es keine andere Möglichkeit für sie: sie musste zu Hause bleiben.
Ihre Geschichte in diesem blog zu erzählen soll nicht darum kreisen, eine Schuldfrage zu klären, sondern darum, wieder einmal deutlich zu machen, was das Älterwerden mit uns macht. Gerade weil meine Freundin schon so oft große Reisen unternommen hat, hat das Gehirn das schon bekannte Muster abgespult, nämlich bei der Beantragung des Visums den Reisepass mitzusenden. War in diesem Fall unnötig, aber im Gehirn nun mal so abgespeichert. Einerseits ist es ja großartig, dass wir in unserem Leben schon so viele Erfahrungen gemacht haben, auf die wir zurückgreifen können, die uns auch Sicherheit geben; andererseits sind eben diese Erfahrungen oft auch trügerisch, nämlich dann wenn mal eine Sache nicht so läuft, wie sie immer läuft. Wir legen unsere Erfahrungen wie Schablonen auf die alltäglichen Situationen. Blind greifen wir darauf zurück und hinterfragen nicht mehr.
Nun hatte ich hier heute keine sich selbst bedauernde, weinende, lamentierende Freundin am Telefon, sondern eine, die sich bereits einen Tag danach(!!!) köstlich über dieses „Missgeschick“ amüsieren konnte.
Auch das ist ein großer Lebensgewinn des Älterwerdens: die Dinge nicht mehr sooo ernst nehmen zu müssen. Denn, um mal eine Binsenwahrheit zu bemühen, das Leben geht weiter, und zwar genauso wie vorher. Doch nun hat frau zumindest eine tolle Geschichte mehr im Leben zu erzählen. Nicht, dass ich IHRE Geschichten aus Tausendundeiner Nacht nicht gerne gehört hätte. Aber ob ich so mit ihr hätte lachen können … ich weiß nicht.
Ihre Rückreise mit dem Zug in den Norden gestaltete sich übrigens problemlos, wenn man mal von den überfüllten Zügen und den Baustellen auf Bahnhöfen absieht, die großräumig mit schwerem Koffer umschifft werden mussten und immer die Angst im Nacken: Schaffe ich den Anschlusszug noch?
Um halb neun abends schließlich war sie auf dem heimischen Sofa in ihre Kissen gesunken. Wenigstens das war wie bei Scheherazade 😉
Anette Schwohl